Ludwig Seyfarth
Oft ist das, was man nicht sieht, entscheidender als das Sichtbare. Dinge können auf verschiedene Weise sichtbar, aber auch auf ebenso verschiedene Weise unsichtbar sein. Dies gilt nicht zuletzt für Fotografien, die zwar nur die sichtbare Oberfläche der Welt direkt abbilden, aber auf unterschiedliche Weise darauf hinweisen können, was sich hinter dieser verbirgt. Die amerikanische Kulturhistorikerin Rebecca Solnit hat versucht, eine Phänomenologie verschiedener Unsichtbarkeiten aufzustellen:
"Die erste könnten Dinge sein, die materiell existieren - wie etwa Strahlung oder Sauerstoff - , aber nur selten sichtbar werden. Die zweiten wären Abstraktionen wie Gewalt, Amnesie oder das Wettrüsten, die nur in Form bestimmter Handlungen, Folgen oder Ursachen an die Oberfläche treten. Drittens gibt es Tatsachen, die in unserer Kultur verdrängt werden. Häusliche Gewalt etwa wurde erst sichtbar, als die Stimmen der Opfer Gehör fanden (...) Viertens wären da die Regeln, die bestimmen, was wir zu sehen willens oder fähig sind - Regeln, die zudem selten genauer untersucht werden. Fünftens wäre da alles, das hochgesichert, klassifiziert, unterdrückt, versteckt, bewacht ist - unsichtbar durch Regierungsbeschluss: offizielle Geheimnisse. das sechste wäre, was zeitlich begrenzt ist, was schon geschah oder erst passieren wird."2
Interessant ist, dass Solnit physische und soziale Formen der Unsichtbarkeit nicht kategorial voneinander unterscheidet. Dies mag streng wissenschaftlichen Kriterien nicht genügen, aber entspricht einem bildnerischen, künstlerischen Umgang mit Formen der (Un)sichtbarkeit, wie er im Werk von Francisca Gómez zu finden ist. Denn hier gilt es, physisch erfahrbare Bilder für immaterielle Vorgänge zu finden.
Einige Fotografien, wie die Serie black portraits von Francisca Gómez, zeigen weitgehend dunkle Innenräume, die nur durch schwache Lichtquellen teilweise beleuchtet sind. Die anwesenden Menschen sind nur schemenhaft erkennbar. Verstecken sie sich, wollen sie nicht erkannt werden?
Es sind Menschen in Detroit, die ihre Kreditraten oder ihre Miete nicht mehr bezahlen können, auch die Rechnungen für den Strom nicht mehr, und so wurde ihnen dieser abgestellt. Das Dunkel, in dem sie abends und nachts nun leben müssen, bevor man sie endgültigen aus ihren Wohnungen oder Häusern vertreibt, steht symbolisch für die soziale Unsichtbarkeit dieser Menschen. Die Akteure, die für die verheerenden Finanzspekulationen mit Immobilien verantwortlich sind, handeln gleichsam so, als ob die Bewohner der Häuser inexistent wären.
Die dramatische Helldunkelchoreographie der Bilder verleiht den Fotos eine malerische Qualität und erinnert fast an die kunsthistorische Tradition von Caravaggio oder Rembrandt. Nur sind hier eben keine biblischen oder mythologischen Szenen dargestellt, sondern die Inszenierung des Lichteinfalls gilt einer dramatischen Situation, zu welcher der Alltag vieler Menschen geworden ist.
Andere Fotos von Francisca Gómez sind von strahlender Helligkeit bestimmt. Auch sie führen eine Situation vor, in der die Tatsache, dass Häuser Wohnräume für Menschen sein sollten, keine Rolle mehr zu spielen scheint. Sie sind in Spanien entstanden, wo eine geplatzte Immobilienblase unzählige Neubauprojekte hinterlassen hat, in denen weitgehender Leerstand herrscht.
Während ganze Stadtviertel in Detroit vom fortschreitenden Verfall der Bausubstanz geprägt sind, was Francisca Gómez auch in vielen Außenaufnahmen der Häuser eingefangen hat, beruht der Eindruck der Unwirtlichkeit, den die in Nordspanien und in der Umgebung von Madrid entstandenen Bilder verbreiten, auf einer fast irrealen, zeitlos wirkenden Entrücktheit. In der Serie Landschaft mit Wachstum stehen sterile Wohnblocks neben merkwürdigen Nachfahren postmoderner Stilcollagen, umgeben von ungestaltetem Brachland. Es sind stets völlig menschenleere Orte, die genauso gut Computersimulationen ihrer selbst sein könnten, ebenso surreal wirkend wie die leeren Plätze auf den Bildern Giorgio de Chiricos.
Die Künstlerin hat einige dieser Fotos in der Installation Vogelfreie Beweglichkeit als Transparente in die ansonsten abgedeckten Fenster des Kunsthauses Essen montiert, so dass man durch sie hindurch die Umgebung des Ruhrgebiets sieht, die, wenngleich nicht ganz so dramatisch wie in Detroit, vom Niedergang der Schwerindustrie geprägt ist. Die verwaisten Areale in Spanien werden dem Blick aus dem Fenster gleichsam vorgeschoben.
Liegt darin vielleicht ein ironischer Vorschlag, wie das vom Verfall vieler nicht mehr genutzter Bauten geprägte Ruhrgebiet durch klinisch glatte Neubauten „verschönert“ werden könnte?
Francisca Gómez nimmt den Geist der surrealistischen Collage und Montage auf, der überhaupt hinter ihrem Blick auf oft rätselhaft wirkende Szenerien zu stehen scheint, die allerdings ihre realen ökonomischen Ursachen haben. Diese sind auf Bildern jedoch nicht direkt darstellbar, wie Bertolt Brecht schon vor über achtzig Jahren bemerkte: „Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.“
Aber vielleicht lohnt es sich doch, immer wieder zu versuchen, der sichtbaren Oberfläche doch noch abzulesen, was sich hinter ihr verbirgt. Wenn wir hinter die Oberfläche der Fotografien von Francisca Gómez zu dringen versuchen, stoßen wir allerdings nicht nur auf die in die Funktionale der Finanzspekulationen gerutschte Realität, sondern auch darauf, dass wir die Bilder, die wir sehen, stets mit denen abgleichen, die wir bereits kennen, sei es aus der Kunstgeschichte, aus dem Kino oder aus dem Fernsehen, wo sicher fast jeder schon einen Bericht über den Niedergang der Industriestadt Detroit oder die absurden leerstehenden Baukomplexe in Spanien gesehen hat. Wir sehen Bilder und nicht die Welt, die sich vielleicht hinter ihnen verbirgt. Aber dass wir darüber nachdenken, verdankt sich Bildern wie denen von Francisca Gómez, die durch das, was sie zeigen, immer auch unmittelbar auf das verweisen, was auf ihnen unsichtbar bleibt.
1 Aus Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper, Die Moritat von Mackie Messer (nur Filmversion):
Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.
2 (Crimes and Splendors: The Desert Cantos of Richard Misrach, hg. von Anne Wilkes Tucker, Bulfinch Press Boston u. a. 1996, S. 52 f. Engl. Original: "The first might be things that have material existence – radiation and ozone, for example – , but only rarely become visible. The second would be abstractions as violence and amnesia and the arms race, which surface only as particular acts, consequences and conditions. The third would be culturally repressed things – for instance domestic violence, which has become visible only as its victims acquire voices (...) The fourth would be the rules that govern what we are willing and able to see, since those rules, too, are so seldom scrutinized. The fifth would be all that’s high security, classified, suppressed, hidden, guarded – invisible by government decree: official secrets. The sixth would be temporal, what has already or not yet happened.“
Die im Dunkeln sieht man nicht1
Ludwig Seyfarth
Oft ist das, was man nicht sieht, entscheidender als das Sichtbare. Dinge können auf verschiedene Weise sichtbar, aber auch auf ebenso verschiedene Weise unsichtbar sein. Dies gilt nicht zuletzt für Fotografien, die zwar nur die sichtbare Oberfläche der Welt direkt abbilden, aber auf unterschiedliche Weise darauf hinweisen können, was sich hinter dieser verbirgt. Die amerikanische Kulturhistorikerin Rebecca Solnit hat versucht, eine Phänomenologie verschiedener Unsichtbarkeiten aufzustellen:
"Die erste könnten Dinge sein, die materiell existieren - wie etwa Strahlung oder Sauerstoff - , aber nur selten sichtbar werden. Die zweiten wären Abstraktionen wie Gewalt, Amnesie oder das Wettrüsten, die nur in Form bestimmter Handlungen, Folgen oder Ursachen an die Oberfläche treten. Drittens gibt es Tatsachen, die in unserer Kultur verdrängt werden. Häusliche Gewalt etwa wurde erst sichtbar, als die Stimmen der Opfer Gehör fanden (...) Viertens wären da die Regeln, die bestimmen, was wir zu sehen willens oder fähig sind - Regeln, die zudem selten genauer untersucht werden. Fünftens wäre da alles, das hochgesichert, klassifiziert, unterdrückt, versteckt, bewacht ist - unsichtbar durch Regierungsbeschluss: offizielle Geheimnisse. das sechste wäre, was zeitlich begrenzt ist, was schon geschah oder erst passieren wird."2
Interessant ist, dass Solnit physische und soziale Formen der Unsichtbarkeit nicht kategorial voneinander unterscheidet. Dies mag streng wissenschaftlichen Kriterien nicht genügen, aber entspricht einem bildnerischen, künstlerischen Umgang mit Formen der (Un)sichtbarkeit, wie er im Werk von Francisca Gómez zu finden ist. Denn hier gilt es, physisch erfahrbare Bilder für immaterielle Vorgänge zu finden.
Einige Fotografien von Francisca Gómez zeigen weitgehend dunkle Innenräume, die nur durch schwache Lichtquellen teilweise beleuchtet sind. Die anwesenden Menschen sind nur schemenhaft erkennbar. Verstecken sie sich, wollen sie nicht erkannt werden?
Es sind Menschen in Detroit, die ihre Kreditraten oder ihre Miete nicht mehr bezahlen können, auch die Rechnungen für den Strom nicht mehr, und so wurde ihnen dieser abgestellt. Das Dunkel, in dem sie abends und nachts nun leben müssen, bevor man sie endgültigen aus ihren Wohnungen oder Häusern vertreibt, steht symbolisch für die soziale Unsichtbarkeit dieser Menschen. Die Akteure, die für die verheerenden Finanzspekulationen mit Immobilien verantwortlich sind, handeln gleichsam so, als ob die Bewohner der Häuser inexistent wären.
Die dramatische Helldunkelchoreographie der Bilder verleiht den Fotos eine malerische Qualität und erinnert fast an die kunsthistorische Tradition von Caravaggio oder Rembrandt. Nur sind hier eben keine biblischen oder mythologischen Szenen dargestellt, sondern die Inszenierung des Lichteinfalls gilt einer dramatischen Situation, zu welcher der Alltag vieler Menschen geworden ist.
Andere Fotos von Francisca Gómez sind von strahlender Helligkeit bestimmt. Auch sie führen eine Situation vor, in der die Tatsache, dass Häuser Wohnräume für Menschen sein sollten, keine Rolle mehr zu spielen scheint. Sie sind in Spanien entstanden, wo eine geplatzte Immobilienblase unzählige Neubauprojekte hinterlassen hat, in denen weitgehender Leerstand herrscht.
Während ganze Stadtviertel in Detroit vom fortschreitenden Verfall der Bausubstanz geprägt sind, was Francisca Gómez auch in vielen Außenaufnahmen der Häuser eingefangen hat, beruht der Eindruck der Unwirtlichkeit, den die in Nordspanien und in der Umgebung von Madrid entstandenen Bilder verbreiten, auf einer fast irrealen, zeitlos wirkenden Entrücktheit. Sterile Wohnblocks stehen neben merkwürdigen Nachfahren postmoderner Stilcollagen, umgeben von ungestaltetem Brachland. Es sind stets völlig menschenleere Orte, die genauso gut Computersimulationen ihrer selbst sein könnten, ebenso surreal wirkend wie die leeren Plätze auf den Bildern Giorgio de Chiricos.
Die Künstlerin hat einige dieser Fotos in der Installation Vogelfreie Beweglichkeit als Transparente in die ansonsten abgedeckten Fenster des Kunsthauses Essen montiert, so dass man durch sie hindurch die Umgebung des Ruhrgebiets sieht, die, wenngleich nicht ganz so dramatisch wie in Detroit, vom Niedergang der Schwerindustrie geprägt ist. Die verwaisten Areale in Spanien werden dem Blick aus dem Fenster gleichsam vorgeschoben.
Liegt darin vielleicht ein ironischer Vorschlag, wie das vom Verfall vieler nicht mehr genutzter Bauten geprägte Ruhrgebiet durch klinisch glatte Neubauten „verschönert“ werden könnte?
Francisca Gómez nimmt den Geist der surrealistischen Collage und Montage auf, der überhaupt hinter ihrem Blick auf oft rätselhaft wirkende Szenerien zu stehen scheint, die allerdings ihre realen ökonomischen Ursachen haben. Diese sind auf Bildern jedoch nicht direkt darstellbar, wie Bertolt Brecht schon vor über achtzig Jahren bemerkte: „Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.“
Aber vielleicht lohnt es sich doch, immer wieder zu versuchen, der sichtbaren Oberfläche doch noch abzulesen, was sich hinter ihr verbirgt. Wenn wir hinter die Oberfläche der Fotografien von Francisca Gómez zu dringen versuchen, stoßen wir allerdings nicht nur auf die in die Funktionale der Finanzspekulationen gerutschte Realität, sondern auch darauf, dass wir die Bilder, die wir sehen, stets mit denen abgleichen, die wir bereits kennen, sei es aus der Kunstgeschichte, aus dem Kino oder aus dem Fernsehen, wo sicher fast jeder schon einen Bericht über den Niedergang der Industriestadt Detroit oder die absurden leerstehenden Baukomplexe in Spanien gesehen hat. Wir sehen Bilder und nicht die Welt, die sich vielleicht hinter ihnen verbirgt. Aber dass wir darüber nachdenken, verdankt sich Bildern wie denen von Francisca Gómez, die durch das, was sie zeigen, immer auch unmittelbar auf das verweisen, was auf ihnen unsichtbar bleibt.
1 Aus Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper, Die Moritat von Mackie Messer (nur Filmversion):
Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.
2 (Crimes and Splendors: The Desert Cantos of Richard Misrach, hg. von Anne Wilkes Tucker, Bulfinch Press Boston u. a. 1996, S. 52 f. Engl. Original: "The first might be things that have material existence – radiation and ozone, for example – , but only rarely become visible. The second would be abstractions as violence and amnesia and the arms race, which surface only as particular acts, consequences and conditions. The third would be culturally repressed things – for instance domestic violence, which has become visible only as its victims acquire voices (...) The fourth would be the rules that govern what we are willing and able to see, since those rules, too, are so seldom scrutinized. The fifth would be all that’s high security, classified, suppressed, hidden, guarded – invisible by government decree: official secrets. The sixth would be temporal, what has already or not yet happened.“